Der Ausbau bestehender Speicherseen trägt wesentlich zur Energiestrategie 2050 bei

Der Ausbau bestehender Speicherseen trägt wesentlich zur Energiestrategie 2050 bei

Mai 2020 - von Dr. David Felix und Prof. Dr. Robert Boes

Mit der Umsetzung der Energiestrategie 2050 steigt die Nachfrage nach saisonaler Speicherkapazität für elektrische Energie. Eine Möglichkeit ist der Ausbau bestehender Speicherseen von Wasserkraftwerken durch die Erhöhung ihrer Abschlussbauwerke (Talsperren). Forschende der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich bewerteten die Möglichkeiten und potenziellen Vorteile der Erhöhung von 38 Talsperren in den Schweizer Alpen und kamen zu folgendem Schluss: Würden 17 bis 26 Talsperren um bis zu 20% erhöht, könnten zusätzlich insgesamt 2.2 bis 2.9 TWh elektrische Energie pro Jahr vom Sommer in den Winter verlagert werden. Dies entspricht dem privaten Stromverbrauch von 1.7 bis 2.2 Millionen Einwohnern im Winter.

In einem Stromnetz muss die Stromerzeugung jederzeit der Nachfrage entsprechen. Laufwasserkraftwerke, Kernkraftwerke und neue erneuerbare Energiequellen wie Photovoltaik und Wind sind nicht vollständig flexibel und können daher nicht kurzfristig auf Nachfrageänderungen reagieren. Um Stromerzeugung und -verbrauch auszugleichen, werden Speicher- und Pumpspeicherwasserkraftwerke betrieben. Aufgrund der kleineren Abflüsse im Winter ist die Stromerzeugung aus Wasserkraft relativ gering, während der Strombedarf höher ist als im Sommer. Daher werden künstliche Speicherseen (Stauseen) in den Alpen im Frühjahr und im Sommer mit Wasser gefüllt, um im Winter mehr Strom zu erzeugen. Eine solche saisonale Speicherung verringert den Bedarf an Stromimporten im Winter.

Die Schweizer Energiestrategie 2050 sieht einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergienutzung und eine erhebliche Steigerung der Stromerzeugung aus neuen erneuerbaren Energien (hauptsächlich Photovoltaik) vor. Wenn die Schweizer Kernkraftwerke in den kommenden Jahrzehnten ausser Betrieb genommen werden, wird die Schweizer Stromproduktion im Winter deutlich niedriger sein als heute, auch weil die Stromproduktion aus Photovoltaik im Winter geringer ist als im Sommer. Aufgrund dieser zukünftigen Verschiebungen in der Schweizer Stromerzeugung steigt der Bedarf an saisonaler Speicherung grosser Strommengen.

Ausbau bestehender Stauseen zur Vergrösserung der saisonalen Stromspeicherung

Eine Möglichkeit auf den zunehmenden Bedarf an saisonaler Stromspeicherkapazität zu reagieren ist die Erhöhung von Talsperren bestehender Stauseen, um damit deren Speichervolumen zu vergrössern. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten an einigen Stauseen in den Schweizer Alpen realisiert, z.B. Mauvoisin (VS), Luzzone (TI) und Vieux Emosson (VS). Durch die Erhöhung dieser Staumauern um 6%, 8% bzw. 39% ihrer vorherigen Höhen (gemessen vom tiefsten Punkt des Fundaments bis zur Krone) nahmen die Speichervolumen um 17%, 23% bzw. 93% zu. Solche beträchtlichen Steigerungen des Speichervermögens kommen daher, dass die Talbreiten mit der Höhe über dem Flussbett zunehmen.

Eine systematische Studie über den Ausbau der Speicherseen in der Schweiz

Um das Energiespeicherpotential solcher Stauseeausbauten abzuschätzen, untersuchten Forschende der ETH Zürich systematisch 38 bestehende Stauseen in den Schweizer Alpen, die heute je ein Nutzvolumen von mindestens 20 Mio. m3 haben. Die Forscher untersuchten konzeptionell welche baulichen Anpassungen erforderlich sind, wenn die Talsperren dieser Stauseen um 5%, 10% oder 20% erhöht werden. Dann bewerteten sie die erforderlichen Anpassungen anhand von acht Kriterien (Fuchs et al. 2019). Dabei betrachteten sie die zusätzlich zeitweise überstauten Flächen, die Sperren mit ihren Nebenanlagen (z. B. Hochwasserentlastungsanlagen) und die zugehörigen Wasserkraftwerke. Danach sortierten sie die Erhöhungsoptionen nach ihrer Bewertung und klassifizierten sie in “gut geeignet“, “mässig geeignet“ und “nicht weiter zu untersuchen“. Die Forschenden fassten die „gut geeigneten“ Erhöhungsoptionen in einem Szenario zusammen, während sie in einem zweiten Szenario zusätzlich die „mässig geeigneten“ Optionen berücksichtigten.

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Staumauer Mauvoisin während der Erhöhung im Jahr 1990. Durch Erhöhung der Mauer um 13.5 m, was 6% der vorherigen maximalen Mauerhöhe entspricht, konnte das Speichervolumen um 17% vergrössert werden. Dies ermöglicht die zusätzliche Speicherung von rund 100 GWh elektrischer Energie, was dazu beiträgt, das Stromangebot und die -nachfrage über das Jahr hinweg besser auszugleichen. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Comet Photo AG Zürich: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000041277).

Was ist das Energiepotential von Stauseeausbauten?

Werden 17 bzw. 26 der untersuchten Stauseen gemäss den beiden Szenarien ausgebaut, würde ihr Gesamtspeichervolumen um 700 bzw. 950 Mio. m3 zunehmen. Dadurch würde die heutige Speicherkapazität der Schweizer Wasserkraftanlagen von 8.8 TWh um 2.2 bzw. 2.9 TWh erhöht (Felix et al. 2020), was einer Steigerung um 25 bzw. 33% entspricht. Mit der zusätzlichen Speicherkapazität könnten also zusätzlich 2.2 bis 2.9 TWh elektrischer Energie pro Jahr von Sommer in den Winter verschoben werden. Diese Energie entspricht beispielsweise dem privaten Stromverbrauch von 1.7 bis 2.2 Millionen Einwohnern im Winter. Daher wären solche Stauseeausbauten ein wertvoller Beitrag zur Verringerung des Bedarfs an Stromimporten im Winter.

Durch die Erhöhung der Talsperren um bis zu 20% nimmt der nutzbare Höhenunterschied der entsprechenden Wasserkraftwerke nur um rund 2% zu. Daher wird es über das Jahr gesehen keine nennenswerte zusätzliche Stromerzeugung geben (<0.2 TWh / Jahr). Der Wert des Ausbaus von Wasserkraftspeichern liegt jedoch in der zusätzlichen Produktionsverlagerung vom Sommer in den Winter. Heutzutage müssen einige Speicherwasserkraftwerke im Spätsommer auch in Zeiten sehr schwacher Nachfrage mit maximaler Last betrieben werden, da die Stauseen voll sind. Stauseeausbauten würden dazu beitragen, solche Situationen zu vermeiden und den Strombedarf und die -erzeugung besser auszugleichen.

Weitere Vorteile von Stausee-Ausbauten

Neben der Wasserkraft können ausgebaute Stauseen auch verstärkt zum Schutz vor Naturgefahren beitragen, das heisst hauptsächlich vor Hochwasser. Als Mehrzweckspeicher können sie auch flussabwärts liegenden Gemeinden und Ökosystemen dienen, indem sie Wasser zur Bewässerung und zur Sicherung minimaler Abflüsse in Fliessgewässern in künftigen Trockenperioden bereitstellen.

Einschränkungen und Perspektiven

Die Autoren der Studie nehmen an, dass aus technischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Gründen nicht alle Ausbauoptionen realisiert werden können. Angesichts begrenzter Alternativen zur saisonalen Speicherung grosser Strommengen und der Tatsache, dass die Planung und Ausführung von Stausee-Ausbauprojekten bis zu 15 Jahre dauern kann, werden weitere Studien zu diesem Thema empfohlen. Für die Umsetzung der Energiestrategie 2050 wird vorgeschlagen, sowohl den Ausbau bestehender Stauseen mit den entsprechenden Wasserkraftwerken als auch Optionen für neue Wasserkraftwerke weiter zu untersuchen. Letzteres könnte vor allem in grossen Höhen möglich werden, wo zusätzliche Gebiete aufgrund des Rückzugs der Gletscher eisfrei geworden sind und werden. Um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen, sind weitere Untersuchungen sowie zusätzliche Anreize erforderlich.

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Erhöhung der Staumauer Mauvoisin im Jahr 1990 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Comet Photo AG Zürich: http://doi.org/10.3932/ethz-a-000041279).

Autoren

Autoren

David Felix studierte Bauingenieurwesen an der ETH Zürich. Nach seinem Studienabschluss im Jahr 2005 arbeitete er beim Ingenieurbüro Pöyry (heute AFRY) in den Fachbereichen Wasserkraft , Stauanlagensicherheit und Hochwasserschutz. 2010 wechselte er als Lehrassistent an die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich. Für sein Doktorat untersuchte er von 2012 bis 2017 den hydro-abrasiven Verschleiss an Peltonturbinen, hauptsächlich anhand von Messungen am Wasserkraftwerk Fieschertal (VS).

Seitdem arbeitet er als Forscher im SCCER-SoE an den Themen Echtzeit-Sedimentüberwachung in Wasserkraftwerken, Turbinenabrasion, Sedimentmanagement sowie Talsperrenerhöhungen und neue periglaziale Wasserkraftanlagen. Mit der Forschung in diesen Bereichen trägt die VAW zur Umsetzung der Energiestrategie 2050 bei.

Robert Boes studierte Bauingenieurwesen an der RWTH Aachen, der Ecole Nationale des Ponts et Chaussées in Paris und der Technischen Universität München. Nach den Studienabschluss trat er 1996 an die VAW der ETH Zürich ein, wo er im Jahr 2000 über die Hydraulik von Treppenschussrinnen promovierte. Nach einer Stelle als Postdoktorand an der VAW wechselte er in die Planungs- und Bauabteilung der TIWAG-Tiroler Wasserkraft AG nach Innsbruck. Dort leitete er interdisziplinäre Projekte in den Bereichen Wasserbau, Wasserkraft und Hochwasserschutz. 2007 wurde er Leiter der Gruppe für Dammbau.

Seit 2009 ist Robert Boes Professor für Wasserbau an der ETH Zürich und Direktor der VAW. Robert Boes ist ausserdem als Berater an Wasserkraft- und Hochwasserschutzprojekten in der Schweiz und im Ausland tätig. Er ist Vorstandsmitglied des Schweizerischen Wasserwirtschaftsverbands, des Schweizerischen Talsperrenkomitees und des Energy Science Center der ETH Zürich. Er ist Mitglied des Lenkungsausschusses der Europäischen Energieforschungsallianz (EERA) im Programm „Wasserkraft“ und Leiter des Work Package 2 "Wasserkraft" im SCCER-SoE.

Mehr erfahren

Fuchs H., Felix D., Müller-Hagmann M., Boes R. (2019). Bewertung von Talsperren-Erhöhungs­optionen in der Schweiz. WasserWirtschaft 109(5): 146-149.

Felix D., Müller-Hagmann M., Boes R. (2020). Ausbaupotential der bestehenden Speicherseen in der Schweiz. Wasser, Energie, Luft 112(1): 1-10.